Dorftheater Węgajty spielt Kalevala im Schloß Freudenberg und gibt ein Tanzfest in der Heydenmühle.

Ein ganz besonderes Erlebnis, hervorgegangen aus einer ganz besonderen Zusammenarbeit, wird sich Gästen von Schloß Freudenberg und der Heydenmühle Ende Mai bieten: Das polnische „Dorftheater Węgajty“ bringt im Schloß Fragmente des finnischen Nationalepos Kalevala auf die Bühne, an einem Abend wird der neue Film von Andrzej Klamt über die Gruppe gezeigt und im Anschluss spielt Węgajty in der Heydenmühle zum Tanz auf.

„In der Stadt unbeliebt – gingen sie von Dorf zu Dorf“, so beschreibt Aristoteles die Entstehung der Komödie, von káta kómas = von Dorf zu Dorf gehen. Ganz in der Tradition des polnischen Theaterneuerers Jerzy Grotowski wandern die Mitglieder des Dorftheaters Węgajty seit Jahren übers Land, spielen bei Hochzeiten, auf der Strasse, lauschen bei Begräbnissen und Familienfeiern, sammeln Geschichten, Legenden, Lieder, Melodien. Auf regelrechten Forschungsexpeditionen in entlegene Landstriche wird zusammengetragen und neu gemischt, was sich im heutigen Nordosten Polens schon immer an unterschiedlichen kulturellen Traditionen gesammelt hat.

Węgajty, das ist selbst ein kleines Dorf in den Masuren, unweit der Kreisstadt Allenstein. Im Jahre 1978 siedelten die letzen deutschstämmigen Bewohner von Węgajty in die Bundesrepublik über. Das Dorf, das mitten in einer wunderschönen hügeligen Landschaft liegt, war für einige Jahre wie ausgestorben.

Wacław und Erdmute Sobaszek haben zu jener Zeit in Polens Großstädten Straßentheater gespielt, eine Kunstform, die damals dort zur größten Blüte kam. Als aber 1981 das Kriegsrecht ausgerufen wurde, konnten die beiden Theaterleute wegen des Versammlungsverbots nicht mehr auf der Straße auftreten. So kamen sie im selben Jahr nach Węgajty und suchten sich aus den leer stehenden alten deutschen Häusern und Scheunen für das neue Dorftheater die passenden Räumlichkeiten aus, renovierten sie und gründeten bald das „Teatr Wiejski Węgajty“.

Nach und nach zogen immer mehr Menschen in das Dorf, unter anderem alle Schauspieler und Mitarbeiter des Dorftheaters, dessen Mitglieder aus Schottland, Deutschland, Polen und der Ukraine kommen. Schon nach kurzer Zeit wurde Węgajty zu einem Mekka der polnischen und bald auch internationalen Theaterszene, wohin Theaterbegeisterte für die Wochenend-Aufführungen von weither anreisen.

Eine Wurzel des Dorftheaters ist das „Kalender-Singen“. Ähnlich wie bei den Oberuferer Weihnachtsspielen gab es in Polen den Brauch, während der Zwölf Heiligen Nächte singend und spielend von Haus zu Haus zu ziehen, um die Dämonen zu besänftigen, die in dieser Zeit „zwischen den Jahren“ besonders freigelassen und frech sind.

Eine andere ist der schon erwähnte große Regisseur und Lehrer Jerzy Grotowski, nach dem es keine Trennung zwischen Leben und Spiel gibt. Theater als Lebensform, das klingt auch nach Schloß Freudenberg, in dem die Maxime gilt: „Das ganze Unternehmen hat den Charakter eines Gesamt-Theaters, in dem der Besucher zugleich und in einer Person Autor, Regisseur, Schauspieler und Zuschauer ist“. Auch für Teatr Węgajty ist Theater die Lebensform.

Bei all diesen ermländischen, jüdischen, polnischen und ukrainischen Wurzeln und Traditionen bleibt das Dorftheater ganz zeitgenössisch. Die deutsche Mitbegründerin Erdmute Sobaszek: „Der Kern unserer Arbeit ist die Beschäftigung mit Tradition. Tradition kann etwas sehr Lebendiges sein, etwas, was auf hochaktuelle Fragen Antworten gibt. Woher die Tradition nun kommt, ist zweitrangig, Hauptsache, wir machen sie wieder lebendig“. Das erinnert an Gustav Mahler, der einmal gesagt haben soll: „Tradition ist die Weitergabe des Feuers, nicht die Anbetung der Asche.“

Wer einmal bei einer Aufführung in Węgajty dabei war, ist nicht bei seiner Zuschauerrolle geblieben. Das beginnt schon in der Eingangshalle am offenen Kamin, wo viele erst mal ihre nassen Schuhe und Strümpfe trocknen. Und geht weiter beim heißen Tee, der im nächsten Raum wartet. Spätestens im zweiten Akt – der erste ist das eigentliche Stück – wenn die Gruppe zum Tanz aufspielt, schwingen Alt und Jung gemeinsam das Tanzbein. Hausschuhe mit Wanderstiefeln, jede mit jedem. Polkas, Walzer, Tangos, russische tschestuschkas, klezmersche Tanzschlangen,… Meilenweit vom westlichen Theaterbetrieb entfernt, ist es eine bestimmte Ethik, die die Theaterarbeit trägt, die Ernsthaftigkeit, mit der man auf jeden Gast eingeht, die Art des Umgangs miteinander.

„Auf der ganzen Welt scheint eine Tendenz zu überwiegen: die übermächtige Neigung, unsere Relationen immer noch komplizierter zu machen und uns von der Erde abzulösen. Eine riesige Unklarheit kommt auf uns zu. Die einzige Hoffnung besteht in der Fähigkeit des Lebens, sich immer wieder selbst zu verteidigen. Dieses Ringen wird verschiedenartige Prozesse freisetzen. Vieles deutet darauf hin, daß besonders der Entstehung ökologischer Nischen immer mehr Bedeutung beigemessen werden muss. Und das Theater wird wohl eine von ihnen sein“, so Wacław Sobaszek, künstlerischer Leiter des Dorftheaters.

Dass sich das Dorftheater Węgajty, das einem manchmal eher ein Team von Anthropologen zu sein scheint als eine Bühnentruppe, der Kalevala zuwendet, ist gar nicht so schwer verständlich. Ist sie doch ebenso eine Sammlung von Liedern, Liedfragmenten und Sprüchen, hervorgegangen aus jahrzehntelangen Forschungsbemühungen von Elias Lönnrot. Die erste schriftliche Zusammenfassung der von ihm gesammelten Volksdichtung erschien 1835. Nach weiteren umfangreichen Findungen Lönnrots und seiner Kollegen erschien 1849 eine zweite, erweiterte Fassung, die seither in Finnland gelesen wird und ein Fresko der mythischen Frühzeit Finnlands darstellt. In großer, gewaltiger und bildhafter Weise werde uralt-heilige Mysterienwahrheiten wiedergegeben, die aus den tiefsten Mysterien des europäischen Nordens stammen. In seiner kulturgeschichtlichen Bedeutung wie in seiner ästhetischen Qualität steht es auf einer Ebene mit den anderen großen Epen Europas: der Ilias, dem Nibelungenlied, dem Rolandslied, der Edda.

Auch politisch hatte es einen großen Einfluss, denn Finnland war erst 1809 autonomes Großfürstentum geworden. Die Kalevala stärkte das Selbstbewusstsein und den Glauben an die Möglichkeiten der eigenen Sprache und Kultur. Das Epos besteht aus fünfzig Liedern, die im Schloß Freudenberg aber nur fragmentarisch angedeutet werden. Sie stammen aus verschiedenen Epochen aus einer Zeit vor vermutlich etwa 2500 bis 3000 Jahren und wurden von Generation zu Generation weitergegeben. Darin enthalten sind Lieder von der Entstehung der Welt und der menschlichen Kultur, Heldengeschichten, Reisen ins Land der Toten, Ritenlieder von Hochzeiten und Bärenfesten, Zaubersprüche.

Drei der bekanntesten Helden des Epos sind Wäinämöinen, Ilmarinen und Lemminkäinen. Rudolf Steiner spricht davon, wie man bei ihnen gar nicht von „gewöhnlichen Heroen und Helden sprechen kann wie man das Wort oftmals anwendet in anderen Volksepen“. Vielmehr seien diese Helden die geistigen Geber und Bringer der sich entwickelnden Seelenkräfte, nämlich der Empfindungsseele, der Verstandes- und Gemütsseele und der Bewusstseinsseele.

Die Vorstellung des Dorftheaters Węgajty basiert nun auf den Liedern, die den Helden Lemminkäinen betreffen. Rudolf Steiner: „Nicht nur deuten diese Dinge auf Historisches hin, sondern es ist in dem Historischen auch immer das enthalten, was als okkulte Kräfte dahintersteht. Es ist damit nicht gesagt, daß hinter den Persönlichkeiten nicht auch historische Helden stehen; aber das was in diesen Helden steckt, ist das was wir notwendig erkennen müssen. Der Geber der Bewusstseinsseele ist Lemminkäinen. Lemminkäinen ist gerade deshalb, weil er der Geber der Bewusstseinsseele ist, in einer, man möchte sagen dionysischen Lage: es ist frappierend, wenn man das Mysterium von dem ,Zerstückeltwerden in die Welt‘ kennt, dass da auftritt in der Kalewala die Zerstückelung des Lemminkäinen“ (7.4.1912). Dieses seelische Zerstückeltwerden ist ein Empfinden, was viele heute haben und was mit der Entwicklung der Bewusstseinsseele einhergeht, einer Qualität, die gerade in unserer Zeit entwickelt werden will.

Steiner hat sich in mehreren Vorträgen, vor allem im November 1914, in außergewöhnlich persönlicher, warmherziger Weise zur Kalewala geäußert: „Die europäischen Völker verehrten die homerischen Epen. Allein aus noch tieferen Gründen des Seelenlebens heraus floß das Epos Kalewala. Nur kann man das noch nicht einsehen heute. Das wird man aber, wenn man die Lehren der Geisteswissenschaft in entsprechender Weise verwenden wird für die Erklärung geistiger Erscheinungen der Erdenevolution. Ein solches Epos wie Kalewala kann nicht erhalten werden, ohne daß es im lebendigen Dasein erhalten wird, ohne die Seelen, welche im Leibe wohnen, welche verwandt sind mit den Schöpferkräften von Kalewala“ (15.11.1914).

Die – seltenen – Auftritte des Dorftheaters im Rhein-Main-Gebiet sind möglich durch die Zusammenarbeit der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Mainz-Wiesbaden, der Filmproduktion halb total Wiesbaden, Kunst und Kultur an der Heydenmühle sowie der Gesellschaft Natur und Kunst Schloß Freudenberg.

Die Deutsch-Polnische Gesellschaft Mainz-Wiesbaden besteht seit zehn Jahren und trägt mit einer erlesenen Auswahl an Veranstaltungen zur Verbreitung der polnischen Kultur und zum Austausch zwischen Polen und Deutschen in unserem Raum bei. So darf sie zu den frühen Förderern der heutigen Stars der polnischen Literatur Olga Tokarczuk und Andrzej Stasiuk gerechnet werden.

Der Filmregisseur und Initiator vieler zukunftsträchtiger Kulturprojekte Andrzej Klamt ist vor allem durch seine filmischen Dokumentationen sibirischer Straflager bekannt geworden. Sein im Auftrag des ZDF/Theaterkanal entstandener 45minütiger Film „Die unglaubliche Theaterscheune von Węgajty“ wird am 24. Mai um 18 Uhr im Schloss Freudenberg gezeigt.

Walter Siegfried Hahn

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