Fridtjof-Nansen-Akademie Ingelheim,
21.-22. November 2003
Leitung: Dr. Markus Krzoska, Deutsch-Polnische Gesellschaft Mainz-Wiesbaden
Beobachtet man den aktuellen deutsch-polnischen politischen und gesellschaftlichen Diskurs, der sich weiterhin häufig mit Fragen der Vergangenheit beschäftigt, so hat man mitunter den Eindruck, das gegenseitige Verhältnis sei nach wie vor bzw. wieder belastet. Überwunden geglaubte Fronten brechen scheinbar wieder auf, wie der Streit um ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ zeigt.
Wie verhielt es sich aber in Zeiten, in denen deutsch-polnisches Zusammenleben unmittelbarer erfolgte als heute? Welche Vorgaben machte die Politik in der Zeit des deutschen Kaiserreiches, der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus? Vor allem aber: wie sah jenes Zusammenleben der Menschen vor Ort eigentlich aus?Unser diesjähriges Ingelheimer Seminar will diesen Fragen auf die mittlerweile bewährte Art und Weise nachgeben. Angesichts der Vielfalt des Themas wird neben allgemeinen Fragestellungen anhand von Fallstudien auch der Alltag des Zusammenlebens näher betrachtet werden. Handelte es sich in ihm eher um ein Miteinander der Deutschen und der Polen, um ein Nebeneinander oder ein Gegeneinander?
Freitag, 21. November 2003
Samstag, 22. November 2003
Das Deutsch-Polnische Zusammenleben vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg war das Thema einer Tagung, die die Deutsch-Polnische Gesellschaft Mainz-Wiesbaden e.V. in Zusammenarbeit mit der Fridtjof-Nansen-Akademie für politische Bildung und der Landeszentrale für Politische Bildung Rheinland-Pfalz am 21. und 22. November 2003 in Ingelheim durchführte. Die Veranstalter wollten dabei der Frage nachgehen, wie sich die unmittelbare Nachbarschaft zwischen Deutschen und Polen in der Vergangenheit im Alltag gestaltete und wie es dazu kam, dass aus einem Miteinander und Nebeneinander im Zeitalter des Nationalismus häufig ein Gegeneinander wurde.
Prof. Dr. Manfred Alexander
In seinem einleitenden Doppelvortrag skizzierte Prof. Dr. Manfred Alexander (Universität Köln) die deutsch-polnischen Beziehungen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg. Dabei verwies er auf den durch die Frankfurter Nationalversammlung 1848 sichtbar gewordenen Bruch zwischen den beiden Völkern und die zunehmende Politisierung der Sprache, die immer weniger nur der Kommunikation diente, sondern verstärkt der Identifikation. Er betonte die zwiespältige Rolle der Intellektuellen im Nationalisierungsprozess auf beiden Seiten sowie das allmähliche Entstehen von Parallelgesellschaften, etwa in der Provinz Posen. Mit der Reichsgründung von 1871 sei aus einem preußisch-polnischen ein deutsch-polnischer Konflikt geworden. Während die Ost-West-Migration bei allen Schwierigkeiten im Westen zu einer gesellschaftlichen Modernisierung geführt habe, habe die Landpolitik im Osten immer anachronistischere Züge getragen. Der von Bismarck initiierte Kirchenkampf habe dann endgültig eine Solidarisierung weiter Teile der polnischsprachigen katholischen Bevölkerung bewirkt. Das alte Miteinander sei nun auch in den Dörfern zunehmend verdrängt und tabuisiert worden.
Prof. Dr. Manfred Alexander und Dr. Markus Krzoska
Nach 1919 hätten sprachliche Polarisierung und wirtschaftliche Schwierigkeiten Deutsche und Polen immer mehr voneinander entfremdet. Das Großmachts- und Raumdenken Deutschlands und Russlands bedingte eine aggressive Polenpolitik, während der neu entstandene polnische Staat große Probleme bei der Vereinheitlichung der ehemaligen Teilgebiete hatte. Alexander unterschied drei Phasen der deutschen Polenpolitik, eine preußische, die er an den Namen Hans von Seeckt und Gustav Stresemann festmachte und die durch die massiven Revisionsabsichten der Versailler Grenzziehung und eine starke Unterstützung der deutschen Minderheit geprägt gewesen sei, eine polemisch „österreichisch“ genannte Adolf Hitlers, dessen Grundpositionen viel stärker anti-tschechisch als anti-polnisch gewesen seien und dessen Sympathie für Marschall Piłsudski den Nichtangriffspakt von 1934 vorbereitet habe, sowie eine rassistische Phase, in der die Polen zwar zunächst als potenzielle Juniorpartner betrachtet, zugleich aber bereits als Untermenschen wahrgenommen wurden. Der Zweite Weltkrieg sei von Beginn an im Osten als Vernichtungskrieg geführt worden, obwohl das Teile der deutschen Forschung in Fortführung des traditionell negativen deutschen Polenbildes nicht wahrgenommen hätten.
Dr. Torsten Lorenz (rechts im Bild)
Der konkreten Ausgestaltung des deutsch-polnischen Zusammenlebens widmeten sich die beiden nächsten Vorträge. Dr. Torsten Lorenz (Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder) untersuchte das Verhältnis der deutschen, polnischen und jüdischen Bevölkerungsgruppe in der Kleinstadt Birnbaum an der Warthe (Międzychód) vom Ende der Frühen Neuzeit bis zum Zweiten Weltkrieg. Ausgehend von der Feststellung, dass sich Alltag leider nur dann in den Quellen widerspiegle, wenn Konflikte auftauchten, zeichnete er ein vielschichtiges Bild der Verhältnisse vor Ort. Das Zusammenleben in dem im Bereich der deutsch-polnischen Sprachgrenze auf dem Gebiet Polen-Litauens gelegenen Birnbaum war unter der Herrschaft des protestantischen Adelsgeschlechtes der Unruhs lange Zeit relativ friedlich, unter anderem wegen einer Reihe von Verboten, etwa der religiösen Auseinandersetzung. Der soziale Aufstieg von Polen in die deutsch geprägte Gesellschaft war möglich, wenn die finanziellen Voraussetzungen stimmten. Infolge der Zweiten Teilung Polens 1793 traten tiefgreifende wirtschaftliche Veränderungen ein. Die Errichtung einer Zollgrenze durch Russland und der Abzug des den Ort prägenden Tuchmachergewerbes ins russische Kongresspolen bedingte eine völlige Umstrukturierung der regionalen Ökonomie. Das polnische Gesellschaftssegment blieb – wie in der alten polnisch-litauischen Adelsrepublik – unvollständig, da ein Bürgertum weitgehend fehlte, dessen Aufgaben vor allem Juden wahrnahmen. Diese waren nach der Emanzipationsgesetzgebung von 1833 im Stadtrat leicht überrepräsentiert, sogar in der elitären Schützengesellschaft waren sie vertreten.
Seminarteilnehmer
Die Konflikte des Jahres 1848 wurden auch in dieser Region sichtbar. In Birnbaum entstand ein deutsches Nationalkomitee, im benachbarten Zirke (Sieraków) sowohl ein deutsches als auch ein polnisches. Die ersten Jahre des Kaiserreiches waren dann durch die Abwanderung der meisten Juden nach Westen gekennzeichnet, die in der Regel durch Polen aus dem Umland ersetzt wurden. Lorenz untersuchte die Beschwerden der Stadtverwaltung über diese Zuwanderung in Berlin und kam zu dem überraschenden Ergebnis, dass diese aufhörten, als die preußische Regierung im Zuge der Unterstützung der Deutschen im Osten umfangreiche Strukturfördermittel überwiesen hatte, die u.a. zum Bau eines neuen Bahnhofes genutzt wurden. Deutsch-polnische Konkurrenz im Wirtschaftsleben bestand zwar, doch blieb der soziale Aufstieg für Polen offen, sobald sie Kompromisse eingingen, wie das Beispiel eines Metzgermeisters, eines bekennenden Nationalpolen, zeigte, der die deutsche Hauptstadt mit Schweinehälften belieferte. Durch die Ergebnisse des Ersten Weltkrieges wurde Birnbaum wieder polnisch und zu einer Grenzstadt, die sich wirtschaftlich umorientieren musste. Eine vollständige nationale Transformation fand jedoch nicht sofort statt; das Zusammenleben funktionierte weiterhin einigermaßen, wovon zweisprachige Geschäftsanzeigen und Postkarten zeugen, das Birnbaumer Bismarckdenkmal wurde erst nach 1933 abgetragen, eine Trennung in nationale Wirtschaftskreisläufe fand vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nicht statt.
Dr. Oliver Steinert
Anschließend berichtete Dr. Oliver Steinert (Mainz) über die Berliner Polen im Deutschen Kaiserreich zwischen Integration und Dissimilierung. Dabei stellte er zunächst die behördliche und die kirchliche Polenpolitik einander gegenüber. Es bildeten sich hier durchaus unterschiedliche Positionen heraus, etwa zwischen dem eher rigiden Vorgehen der preußischen Regierung und dem eher zurückhaltenden Auftreten der Berliner Polizei (vor 1900). Auch die Haltung der katholischen Kirche orientierte sich zwischen einem teilweisen Nachgeben gegenüber den Wünschen der Behörden und Zugeständnissen im Bereich der Seelsorge, wobei man zwischen den Faktoren der konfessionellen und nationalen Loyalität sowie der eigenen Minderheitenposition im mehrheitlich protestantischen Berlin abzuwägen hatte. Gegenüber dem Integrationsdruck im Alltag erwies es sich jedoch praktisch als unmöglich, die eigenen Vorstellungen in Bezug auf das Wirtschaftsleben, das Schulwesen oder die Sprache überhaupt durchzusetzen. Zu Recht wies Steinert darauf hin, dass angesichts der Probleme des Alltags nationale Aspekte für die polnischen Migranten nur eine untergeordnete Rolle spielen konnten. Des weiteren schilderte der Referent die Diskriminierung der Berliner Polen, aber auch die transnationalen Kontakte. Bei letzteren nennt er in erster Linie die Mischehen, die dazu führten, dass sich das polnische Leben oft nur schwer strikt vom deutschen trennen ließ. Abschließend ging er in einem Vergleich auf das besser erforschte Leben der Polen im Ruhrgebiet ein. Hierbei fiel insbesondere auf, dass die Berliner Polen nicht in abgetrennten Vierteln lebten und sich daher leichter als ihre Landsleute im Rheinland und Westfalen assimilierten.
Dr. Sabine Bamberger-Stemmann
Dr. Sabine Bamberger-Stemmann (Nordost-Institut Lüneburg) referierte über Deutsche, Polen und Juden in Oberschlesien in der Zeit zwischen den Weltkriegen. Sie konzentrierte sich dabei auf politische und juristische Aspekte des Zusammenlebens. Die 500 Artikel umfassende Genfer Konvention sollte die polnische Minderheit vor Verfolgung und Unterdrückung schützen. Von den zahlreichen Klagen wählte die Referentin als Beispiele die des Polen Franciszek Myśliwiec gegen das deutsche Reichserbhofgesetz und des Gleiwitzer jüdischen Kaufmanns Franz Bernheim wegen der Gültigkeit der Konvention auch für Juden aus. Bei Myśliwiec zog sich das Verfahren über Jahre hin, nach 1939 wurde er schließlich von den Nazis ermordet. Bernheims Klage hatte Erfolg, indem die NS-Rassengesetze bis 1937 im deutschen Oberschlesien nicht angewandt werden durften.
Ingo Eser M.A.
Ingo Eser M.A. (Freie Universität Berlin) sprach am Ende über die deutsche Minderheit in Polen und ihr Schulwesen in der Zwischenweltkriegszeit. Er bezeichnete die Schulfrage als das zentrale Element der Auseinandersetzung zwischen Deutschen und Polen in jenen Jahren. So betrafen 26 von 43 sich auf Ostoberschlesien beziehende Anträge beim Völkerbund das Schulwesen. Auf deutscher Seite wurden die Schulen als Voraussetzung für das Weiterbestehen der „Volksgruppe“ erachtet, auf polnischer Seite dagegen wollte der Staat direkten Einfluss auf die Minderheitenschulen nehmen, um die Schüler zu loyalen Staatsbürgern zu erziehen. Beide Seiten fühlten sich dabei in der Defensive. Die privaten deutschen Schulen wurden teilweise durch die evangelische Kirche, in größerem Ausmaße aber durch den eigens dafür gegründeten „Deutschen Schulverein in Polen“ finanziert, der seine Gelder vor allem verdeckt aus Deutschland erhielt.
Ingo Eser M.A. und Dr. Markus Krzoska
Die Verschiedenartigkeit der Schulen demonstrierte Eser an drei Beispielen: der Goetheschule in Graudenz, einem nach den neuesten architektonischen Trends unter Unterstützung deutscher Künstler errichteten Musterschule, an der sogar pädagogische Experimente wie eine Art Schülerselbstverwaltung durchgeführt wurden, der zweiklassigen Allgemeinschule von Bukowiec bei Strasburg (Wojewodschaft Pommerellen), die quasi repräsentativ für die Mehrzahl der Schulen war, sowie einer evangelischen Dorfschule in Wolhynien, in der der Lehrer, der gleichzeitig Kantor war, auf engstem Raum eine Vielzahl von Kindern unterrichten musste. Die polnischen Behörden bemühten sich, die Schulen nach Kräften zu behindern. Dazu dienten bürokratische Schikanen und eine rigide Schulaufsicht. Kleine Verstöße gegen politische Vorschriften konnten eine Entlassung von Lehrern zur Folge haben. Darauf und auf das Abwandern von Teilen der Minderheit nach Deutschland war es zurückzuführen, dass die Zahl der Schulen zwischen 1919 und 1939 um 60% zurück ging. Der Referent wies darauf hin, dass neben der seit den dreißiger Jahren zunehmenden Bedeutung des Nationalsozialismus auch in den Schulen mancherorts durchaus eine Erziehung hin zur Loyalität gegenüber dem polnischen Staat stattfand, so beging man polnische Feiertage und auch friedliche Kontakte zwischen Schülern deutscher und polnischer Schulen gab es mancherorts durchaus.
Insgesamt gesehen zeigte die Tagung die Vielschichtigkeit des deutsch-polnischen Zusammenlebens. Nicht immer kann das bilaterale Verhältnis dergestalt über einen Kamm geschoren werden, dass der Weg zwangsläufig vom Miteinander über ein Nebeneinander zum Gegeneinander führte. Die regionalen Unterschiede waren zum Teil recht groß, weitere Regionalstudien werden zeigen müssen, ob sich für die verschiedenen Epochen ein überblicksartiges Gesamtbild gewinnen lässt.
Die Tagung wurde durchgeführt in Zusammenarbeit mit der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz.
Zurück zur Übersicht der Veranstaltungen